Australien ist eines der reichsten Länder der Erde. Doch die Aborigines leben in bitterer Armut, und ihre Zukunftsaussichten sind schlecht. Die Olympischen Spiele 2000 in Sydney nehmen sie als Festival der Einwanderer wahr.
Von Urs Wälterlin
Der Tod kommt in der Flasche nach Wilcannia. «Wir haben viele
junge Menschen durch Alkohol verloren», meint Ray Hunter, 59-jähriger
Ältester der Barkandij-Aborigines.Hunter ist Bürgermeister von
Mallee, eines Armenviertels des gottverlassenen Ortes im australischen
Bundesstaat Neusüdwales. Der alte Mann sitzt auf einem zerschlissenen
Feldbett auf der Veranda. «Langeweile und Frustration treibt die
Leute zur Flasche», meint der Stammesälteste. Er weiss, wovon
er spricht: «Ich habe alles gesoffen. Ausser Pflanzengift.»
Der Exalkoholiker hat die Augen eines Kranken. Dabei hat er Glück
gehabt. Er ist 59, das Durchschnittsalter eines Aborigine liegt bei 54.
Weisse Australier haben deutlich mehr vom Leben, sie sterben erst mit 73.
Australien am Ende des 20. Jahrhunderts, 15 Monate vor Beginn der Olympischen
Spiele in Sydney: In einem der reichsten Länder der Erde leben Tausende
von Menschen in bitterer Armut. Aborigines-Kinder leiden und sterben an
Krankheiten, die man aus Drittweltländern kennt. Übergewicht
und Diabetes sind weit verbreitet. Junge Aborigines schnüffeln sich
mit Benzin in den Wahnsinn oder trinken sich mit billigem Fusel zu Tode.
38 Prozent der Ureinwohner sind arbeitslos, vier-mal häufiger
als weisse Australier. Obwohl die rund 300 000 Aborigines nur 1,9 Prozent
der Gesamtbevölkerung ausmachen, stellen sie 14 Prozent der
Gefängnisinsassen.
Katherine, ein Dorf 300 Kilometer südlich der nordaustralischen
Stadt Darwin. Tim, ein 22-jähriger Automechaniker, erzählt nach
sieben Dosen Bier von seinem Urgrossvater. Der Viehbesitzer habe noch in
den Zwanzigerjahren Aborigines auf sonntäglichen Treibjagden erschossen
und «ihre Köpfe auf der Veranda zum Trocknen aufgestellt».
Der brutale Landwirt handelte wenn auch illegal durchaus im Geist seiner
Zeit. Bis weit in dieses Jahrhundert sahen die kolonialistischen Siedler
und ihre Nachkommen die Aborigines als zum Aussterben verurteilte
Rasse primitiver Nomaden. Sie wurden verfolgt, vergiftet, von ihrem Land
vertrieben und erschossen. «Weisse» Schulen waren für
schwarze Kinder tabu; Städte hatten Aborigines-freie Zonen. Noch bis
in die Siebzigerjahre trennten Regierung und Kirche Tausende von Kindern
von ihren Eltern. Diese gestohlene
Generation» wurde bei Pflegefamilien und in Missionsstationen
untergebracht. Ein kläglich gescheiterter Versuch, Uraustralier zu
assimilieren. Die Praxis erfüllt «den Tatbestand des Völkermordes»,
sagt Professor Colin Tatz von der Macquarie University in Sydney.
Erst in den Sechzigerjahren wurden Ureinwohner auf dem Papier als gleichwertige
Bürger anerkannt und erhielten das Stimmrecht. Seit diesem symbolisch
wichtigen Schritt ging es vorwärts in Richtung Selbstbestimmung; konservative
und sozialdemokratische Regierungen schaufelten Milliarden von Dollars
in Unterstützungsprojekte. Und doch hat sich im Alltag vieler Ureinwohner
wenig geändert: 200 Jahre nach Beginn der Kolonialisierung durch die
englische Krone ist die Beziehung zwischen den Ureinwohnern und der europäisch-stämmigen
Bevölkerung auf einem neuen Tiefpunkt. Für Aborigines-Aktivist
Charles Perkins ist klar: «Der Weg zu einer offenen Debatte ist so
lange blockiert, bis sich die Regierung im Namen der
Nation bei den Aborigines entschuldigt.» Doch in der Hauptstadt
Canberra steht ein «Sorry» nicht zur Diskussion. Die Regierung
unter Premierminister John Howard stellt sogar in Frage, ob in der Vergangenheit
ein Unrecht begangen worden sei. «Es war kein böser Wille»,
meint der für Aborigines zuständige Minister, John Herron. Jene
Beamten, die «auf Wunsch der Kirchen» an der Entfernung von
Kindern beteiligt gewesen waren, hätten geglaubt, «sie täten
das Richtige». Premier Howard
schliesst eine offizielle Entschuldigung kategorisch aus. Es
bestehe die Gefahr von Schadenersatzklagen, «wenn wir eine Schuld
eingestehen», meint er. Die Kirchen sehen das anders und haben sich
für ihre Rolle bei den Adoptionen entschuldigt. Sie finden sich damit
in guter Gesellschaft: Generalgouverneur William Deane, Vertreter des australischen
Staatsoberhauptes Königin Elizabeth II., glaubt, dass nur die Symbolik
einer Entschuldigung den Versöhnungsprozess wirklich in Gang bringen
kann. «Entschuldigen? Wofür? Im Gegenteil: Es wird Zeit, dass
mal jemand mit den Aborigines aufräumt», meint John, ein bärtiger
Schreiner in Broken Hill, 100 Kilometer westlich von Wilcannia. Der Ruf
nach Versöhnung mag in den Städten populär sein auf dem
Land gelten andere Gesetze. Globalisierung, fallende Handelsschranken,
die Krise in Asien haben vom australischen Inland in den letzten Jahren
einen hohen Tribut gefordert. Sogar in Broken Hill, der einst stolzen Wiege
der australischen Bergbauindustrie, verrosten in den Minen die Bagger.
Wer in Dörfern des Inlands mit dem Mann von der Strasse plaudert,
läuft Gefahr, dass die legendäre Freundlichkeit der Australier
in Rassismus umschlägt, sobald das Gespräch auf das Thema Aborigines
kommt. Die Sündenbockfunktion der Aborigines hatte 1996 auch Pauline
Hanson erkannt, als sie als Unabhängige ins nationale Parlament gewählt
wurde. Mit ihrer Stammtisch-Ideologie stach die Fischladenbesitzerin die
Eiterbeule des unterschwelligen Rassismus in Australien auf; Asiaten und
Aborigines wurden auf der Strasse angespuckt. Doch statt Hanson Paroli
zu bieten, blieb Premier Howard stumm. Erst 1997, als die von ihr gegründete
Partei One Nation im Bundesstaat Queensland auf Anhieb 25 Prozent der Stimmen
ergatterte, wachte Canberra auf. Zwar verlor Hanson 1998 beim nationalen
Urnengang ihren Sitz wieder, aber eine Million Australier hatten
ihre Stimme einem One-Nation-Kandidaten gegeben.
«Es macht uns arbeitstätige Aussies wütend, wenn
wir sehen, wie der Staat auf unsere Kosten eine Minderheit unterstützt.»
Alan Jones Stimme wirkt wie ein doppelschneidiges Kampfmesser. Der Oxford-Absolvent
im Armani-Anzug ist einer der mächtigsten Männer Australiens.
Mit seiner Radiosendung erreicht er jeden Tag Millionen von Menschen. Sein
Wort ist für viele Hörer im Inland, wo andere Sender nicht empfangbar
sind, eine der wenigen Informationsquellen. Jones ist ein rechter Ideologe
und williges Sprachrohr von One Nation. Zusammen mit einer Hand voll weiterer
erzkonservativer Radiomoderatoren
prägt er das negative Bild, das Hunderttausende von weissen
Australierinnen und Australiern von den Ureinwohnern haben. Positive Geschichten
über Ureinwohner etwa die Tatsache, dass Aborigines mit verschiedenen
Tourismusprojekten jedes Jahr Hunderte von Millionen Dollar zum Volkseinkommen
beitragen haben in einer Jones-Sendung keinen Platz. Das Gift aus dem
Äther fällt auf fruchtbaren Boden. Selbst moderate Australier
glauben, dass den Ureinwohnern «das Geld in den Hintern gestopft
wird», wie ein Hotelier in Sydney sagt. Dabei ist die Bilanz zwischen
Schwarz und Weiss in fast allen Fällen ausgewogen, was staatliche
Unterstützung angeht. Selbst radikale Aborigines-Aktivisten bestreiten
aber nicht, dass Ureinwohner für einen Teil der ihnen entgegenschlagenden
Antipathie selber verantwortlich sind. Vor allem bei der Verteilung finanzieller
Mittel gibt es Probleme. Eine Überprüfung der nationalen Verwaltungsorganisation
Atsic fand bei 292 von 1200 Aborigines-Projekten Anzeichen für mangelhafte
Buchführung oder Unterschlagungen. Atsic erhält jährlich
rund eine Milliarde Franken aus der Staatskasse die Hälfte des Geldes,
mit dem auf nationaler Ebene fast alle Bereiche der Aborigines-Infrastruktur
finanziert werden. Die Labor-Partei, die 1996 die Macht an die Konservativen
abgeben musste,
habe «während 13 Jahren 16 Milliarden Franken an Aborigines
verteilt, ohne dafür Rechenschaft zu verlangen», sagt Minister
John Herron. Viele Schecks schafften und schaffen es aber zur Basis. In
Wilcannia ist am Mittwoch Zahltag. Mit stummer
Erwartung in den Augen stehen Dutzende von Menschen auf dem staubigen
Trottoir vor der Bankfiliale. 40 Prozent der Ureinwohner sind von Sozialhilfe
abhängig. Die Folge ist in vielen Fällen der totale Verlust des
Selbstrespekts. «Wohlfahrt ist eine besonders perfide Form von Genozid»,
bringt es Charles Perkins auf den Punkt. «Gib den Leuten Geld, und
sie trinken sich zu Tode.» Alkohol ist gerade im Fall der Aborigines
nicht nur eine Bedrohung für den einzelnen, sondern für die Familie,
dem sozialen Zement der Ureinwohnergesellschaft. Doch es gibt Inseln der
Hoffnung. Statt mit dem Zischen der Bierdose sollen auch die Menschen von
Wilcannia bald mit Hammer und Nagel aus dem Teufelskreis von Frustration
und Langeweile geholt werden. Ray Hunter verweist auf ein Projekt, bei
dem Jugendliche die Häuser von Mallee reparieren und dabei einen Beruf
erlernen. Minister John Herron unterstützt Dutzende von Förderungsprojekten
mit beachtlichem Erfolg. So ist etwa die Zahl der Aborigines, die eine
Lehre absolvieren, in drei Jahren von 800 auf 6000 gestiegen. Erfreuliche
Zahlen für den Jahresbericht der Regierung. Der Politologe Robert
Manne glaubt aber, dass Premierminister Howard «nicht im Entferntesten
versteht, was die Suche nach Versöhnung von ihm und seiner Regierung
wirklich verlangt». Obwohl Howard bis im nächsten Jahr ein «Dokument
der Versöhnung» ausarbeiten möchte, zeugt im politischen
Alltag wenig von einem ehrlichen Willen, zwischen schwarzen und weissen
Australiern eine Annäherung herbeizuführen. Im Februar befand
eine Uno-Kommission, Australien habe im Umgang mit den Ureinwohnern seine
Verpflichtung zur Verhinderung der Rassendiskriminierung nicht eingehalten.
Regierungspolitiker reagierten empört mit dem Hinweis, «australische
Gesetze werden von Australiern gemacht, nicht von ausländischen Organisationen».
Für Charles Perkins lässt die Antwort darauf schliessen, dass
Australien auch das neue Jahrhundert «als Zweiklassengesellschaft
begrüssen» wird.
Die australischen Aborigines haben vor der Besiedlung durch die Europäer während mindestens 40 000 Jahren als Nomaden in relativ isolierten Familienclans gelebt und fast 300 verschiedene Sprachen und Dialekte gesprochen. Auch die modernen indigenen Australier sind keine homogene Volksgruppe.
Überfordert
Nur die wenigsten leben noch in traditioneller Form in abgelegenen
Regionen des australischen Kontinents. Etwa die Hälfte der Ureinwohner
wohnt in und um die Kleinstädte auf dem Land, rund 25 Prozent in den
Grossstädten. Diese urbanisierten, zum Teil gut ausgebildeten Aborigines
unterscheiden sich in ihrer Lebensführung kaum von europäisch-stämmigen
Australiern. Viele schaffen es aber nicht, sich den Anforderungen der Zivilisationsgesellschaft
anzupassen. Folgen: Drogenmissbrauch und Verwahrlosung. Trotz einiger
prominenter Sprecher wie Charles Perkins gibt es keine koordinierte «Führungsklasse»
unter den Ureinwohnern. Die staatlich finanzierte Aborigines-Selbstverwaltungs-
Organisation Atsic organisiert einen wesentlichen Teil der politischen
Aktivitäten.
«Fest des weissen Establishments»
Wer beabsichtigt, im September 2000 die Olympischen Spiele in Sydney zu besuchen, «sollte sich das besser zweimal überlegen». Dieser Meinung ist Charles Perkins, ehemaliger Spitzensportler, Berater eines halben Dutzends Premierminister und einer der profiliertesten Ureinwohner Australiens. «Denn Sydney 2000 ist durchaus mit Berlin 1936 zu vergleichen, als die Leute Hitler zujubelten.» Die Sommerspiele seien nicht mehr als ein Festival des «weissen Establishments», der Nachkömmlinge jener «Vagabunden, die uns vor 200 Jahren das Land weggenommen haben», sagt Perkins. Aborigines würden bestenfalls als Dekoration toleriert. Das Sydney Olympic Organizing Committee bestätigt, dass in der Organisationsbehörde nur gerade eine Hand voll Aborigines angestellt sind.
Friedliche Aktionen
Wie alle prominenten Ureinwohner will sich auch Perkins nicht dazu
äussern, ob Aborigines den grössten Sportanlass aller Zeiten
nutzen werden, um auf ihre Situation hinzuweisen. «Wir werden das
Thema noch diskutieren», meint der 63- Jährige. In der Vergangenheit
waren Forderungen nach einem Boykottaufruf an alle schwarzen Sportler der
Welt laut geworden. Auch eine Blockade des Verkehrs zum Olympiagelände
stand zur Debatte. Verschiedene Beobachter schliessen aber aus, dass es
zu militanten Aktionen kommen wird. Aborigines haben eine wesentlich schwächere
Kriegstradition als andere indigene Völker wie etwa die Maori.
Derzeit
ist diese Seite im Original bei der Schweizer Zeitschrift Facts nachzulesen
(nur
weiss ich nicht, wie lange noch)
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